"Foggy"
Hier nach längerer Zeit mal wieder eine Erzählung eines Mitarbeiters von mir. Gregor hatte ein recht ungewöhnliches Erlebnis mit einem männlichen Besuchers meines Geschäfts:
Ein mir bekannter Kunde in Tarnkleidung tritt auf mich zu. Die Kassiererin habe ihn geschickt. "Das müssen Sie mit der Geschäftsführung klären!", habe die gesagt. ich entgegnete: "Die Geschäftsführung ist gerade ortsabwesend, aber vielleicht kann die Stellvertretung..?"Dass jemand versucht, so einen "Sozialschein" direkt in Bargeld zu verwandeln habe ich in den vielen Jahren im Einzelhandel auch noch nicht erlebt. Dafür hatten wir in den letzten Tagen ein paar sonderbare Erlebnisse mit einer Kundin, die hier seit Anfang an herkommt und damit durchaus als Stammkundin bezeichnet werden könnte…
"Ja! Hol die mal!
"Nö, bin ich selbst."
Kurze Verblüffung, dann sagt er, er habe da so einen Zettel, ein gutes Dutzend aufgesetzter Taschen seiner Tarnkleidung durchwühlend. Ich schliesse aus, dass dem Herrn seit Raider Twix heisst jemand etwas geschenkt hat. Kein Geschenkgutschein, kein Roland-Scheck, da bleibt nur ein "ARGE-Gutschein" übrig. "Die nehmen wir nicht, das führt nur zu Scherereien." Für wen, lasse ich mal offen.
Er durchwühlt weiter seine Taschen und fördert lauter anderen Mulch zutage. Als ob ich nichts gesagt hätte. Er sprach: "Ich sag's wie es ist, ich brauch das Geld, für Drogen und Zeugs und so. Ich mein, ist doch besser, du kaufst mir den Schein ab, als wenn ich hier klauen müsste, nich wahr?" Leutseliges Grinsen.
WTF? Drogen UND Zeugs UND so? Keine Moralapostelei jetzt, aber andere Menschen versuchen zu überleben ohne Drogen und brauchen auch Geld, aber für Wohnen und Essen.
"Ich bin begeistert von der Ehrlichkeit, in der Tat, aber wir nehmen keinen ARGE-Gutschein."
Da! Er hat ihn gefunden. Es IST ein ARGE-Gutschein, ich darf ihn kurz überfliegen. Das übliche Gesabbel, dass nichts davon für Tabak und Spirituosen verwendet werden darf. Der Betrag ist grösser als € 55,15.
Als ob ich vorher nichts gesagt hätte, kommt nun die Auskunft "Mann, überall anders darf ich damit für über 50 Euronen LEBENSMITTEL kaufen."
Am liebsten würde ich ja jetzt sagen "Mach das doch!" und noch ein paar Zitronen falten gehen. Aber man ist ja höflich. Der Mann fuhr fort: "Dafür hätte ich gerne 15 Euro!" Wenn ich gesagt hätte, hey, psst, du siehst aus, als ob du so einen Super-Duper-ARGE-Gutschein hättest, überlässt du mir den, fürn Zwanni? Dann wäre es moralisch immer noch fragwürdig, und illegal sowieso, den Gutschein anzunehmen. Aber dann wären 15 € ein nachvollziehbarer Preis.
"Nee, tut mir leid, es gibt Ärger, wenn man einen solchen Gutschein annimmt. Kann ich nicht machen."
Der Kunde fällt aus allen Wolken. "Ja, aber. Aber dann kann ich hier nicht mehr einkaufen. Und meine Kollegen auch nicht."
Das tut mir auch leid.
Als er weg ist, verstehe ich es erst. Auf die Knie fallen, beweinen, dass sein Nicht-mehr-Erscheinen die berufliche Existenz etlicher Menschen aufs Spiel setze, darunter Menschen mit Familien, mit legalen Süchten, wilden Ehen und eingeschlafenen Beziehungen, mit Schulden und geringen Einkünften aus Vermietung und Verpachtung - das wäre eine passende Antwort gewesen. Chance vertan…
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Kommentare
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aufrechtgehn am :
Anfang der Neunziger hab ich mal beim toom an der Kasse gejobbt, da haben wir diese Gutscheine angenommen. Da wurden diese von alkohol- oder drogenkranken Hilfeempfängern gerne mal zum Sonderpreis an andere Kunden verkauft, die diese dann für reguläre Lebensmittel eingelöst haben.
Ich verstehe ja, dass man das als ärgerlich empfindet, und so ein Gespräch führen zu müssen, nervt natürlich. Aber man muss halt bedenken, dass es hier um Suchtkranke geht. Dass die alles tun, um an ihren Stoff zu kommen, ist doch nachvollziehbar. Dass die es direkt beim Ladeninhaber versuchen, zeugt natürlich von besonderer Dreistigkeit - oder besonderer Dringlichkeit der Suchtstoffnachschubbeschaffung.
Maren am :
Und wenn ja: Warum nicht? Die Menschen müssen doch auch irgendwo einkaufen können.
der Heiko am :
Not macht erfinderisch ......
Franze am :
Natürlich kann er immer noch 10 Kilo Kaffee kaufen und draußen gegen Alkohol & Co. verticken, aber für das Gros der Beteiligten ist das wesentlich bequemer. Der Händler kriegt sofort sein Geld (gegen Gebühren im Promille-Bereich), der Sozialhilfeempfänger seine Ware, und das auch noch ohne das peinliche Guck-mal-der-hat-einen-Asozialenschein von hinten.
Anja am :
Björn Harste am :
Nixda am :
Auch gängige Praxis...und völlig legal.
Klodeckel am :
Sonstwer am :
Man könnte auch einfach regelmäßig bepfandete Einweggetränke kaufen und die leeren Flaschen zurückbringen.
Mehrwegbier bringt's da nicht ganz so.
Falk am :